Seit Mitte des 19. Jahrhunderts grassierte in der Schweiz das sogenannte «Pfahlbaufieber». Kein Dorfmuseum oder Liebhaber von «Alterthümern», der nicht stolz seine Pfahlbaufunde präsentierte. Was wurde nicht alles in diese neu entdeckte Kultur aus der Steinzeit hineininterpretiert: eine friedliche Dorfgemeinschaft in einfachen Hütten auf dem Wasser, bescheiden von dem lebend, was die Natur hergab. Tüchtige Männer mit Schnauz versorgten die Kleinfamilie mit grossen Hirschen und Körben voll Fischen. Derweil liebliche Frauen an Webstühlen die pausbäckigen Kinder betreuten.
Dem jungen schweizerischen Bundesstaat bot die neu entdeckte Pfahlbaukultur einen willkommenen Ursprungsmythos: die Ahnen der Schweiz waren frei, kannten keine Hierarchie, waren neutral und selbstgenügsam. Zudem fand man die Überreste dieser Kultur sowohl bei den Gewinnern wie bei den Verlierern des Sonderbundkrieges und in allen Sprachregionen.
Dies waren die idealen Voraussetzungen für zahlreiche private und öffentliche Sammlungen von Fundgegenständen aus der Pfahlbauzeit. Diese wurden meist ohne Grabungen an den Ufern oder im Niedrigwasser in den Seen aufgesammelt. Eine solche sehr eindrückliche Sammlung ist bis heute in Twann im Fraubrunnenhaus ausgestellt. Wobei die allermeisten Funde nicht aus Twann, sondern vom Südufer des Bielersees stammen.
1874 wurden beim Bahnhof Twann erstmals Reste einer frühen Besiedlung ausgegraben. Hundert Jahre danach, von 1974 bis 1976, wurde vor dem Bahnhof Twann eine Unterführung für die Nationalstrasse N5 gebaut. Zuvor hat der Archäologische Dienst des Kantons Bern eine grosse Rettungsgrabung durchgeführt. Die Grabung war sehr erfolgreich. Eine grosse Menge an gut erhaltenem Fundmaterial zeigte auf, dass zwischen 3838 und 2976 v. Chr. an dieser Stelle nacheinander 21 Dörfer gebaut wurden.
Unter mächtigen Aufschüttungen des Twannbachs blieben die Reste der übereinander abgelagerten Siedlungen als eindrückliche Schichtabfolge (Stratigrafie) erhalten. Bauhölzer und Siedlungsabfall wechselten sich mit Seeablagerungen ab, die aus Zeiten mit höherem Wasserstand stammen und Siedlungslücken dokumentieren. Für die Erforschung der Jungsteinzeit oder «Pfahlbauzeit» in Europa bilden diese interdisziplinären Untersuchungen einen Meilenstein:
Mithilfe der Dendrochronologie (Holzaltersbestimmung) konnten zahlreiche Bauhölzer und damit die Siedlungen und dazugehörigen Funde – Haushaltsgegenstände wie Keramikgefässe, Waffen, Werkzeuge sowie Schmuck, pflanzliche Vorräte und Speiseabfälle in Form von Tierknochen – jahrgenau datiert werden. Kontinuierliche Entwicklungen und Innovationen bei Alltagsgegenständen sowie Veränderungen bei Landwirtschaft und Viehzucht wurden fassbar. Bis jetzt wurde erst ein Zehntel der Fläche der mutmasslichen Twanner Pfahlbausiedlungen erforscht. Der Rest befindet sich unter dem heutigen Dorf, das seinerseits unter Denkmalschutz steht.
Seit den Ausgrabungen von Twann, die den Beginn der modernen Pfahlbauforschung markieren, sind an zahlreichen kleinen und grossen Seen der Schweiz und umliegender Länder Seeufersiedlungen mit modernen Methoden aus verschiedenen Wissenschaften untersucht worden. Dabei hat sich gezeigt, welchen Gefahren die oft fragilen Siedlungsreste ausgesetzt sind. Um das Bewusstsein für den Wert und den Erhalt der archäologischen Reste zu fördern, hat die Unesco 2011 von über 1000 bekannten Pfahlbaustätten in sechs Ländern (Schweiz, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und Slowenien) 111 in die Liste des Welterbes aufgenommen. Fünf der «Prähistorischen Pfahlbauten um die Alpen» liegen um den Bielersee, eine davon in Twann.
Dieses UNESCO Welterbe soll jetzt auch in Twann sichtbar werden. Der Umbau des Bahnhofs und die Unterstützung durch die SBB ist die einmalige Gelegenheit dazu.
Weitere neuere Funde am Bielersee bezweifeln unsere in der Schule geprägten Vorstellungen, dass die Pfahlbauer auf dem Wasser gelebt hatten und zeugen von Kontakten bis nach Polen und Estland.